Der im Spätherbst 2020 veröffentlichten Verschronik des Wilhelm Himburg (siehe Zeitfenster 1914) ist zu entnehmen, dass in Wildberg ein aufwühlendes und mit Kanonendonner verbundenes Ereignis im Nachbarort Wolde in legendenumrankter Fassung über Jahrhunderte hinweg in Erinnerung blieb:
„Hoch am Thor
hält ständig Wacht der ‚Engel‘ Chor.
Und das war gut, denn nächtlich,
sagt man wohl, wo kaum ein Mensch mehr wacht,
ritt Reichsgraf Molchen auf Stegreif aus
und kam erst wieder früh nach Haus….
Er macht es wie das Füchslein schlau,
das seine Spur tilgt, dass genau
des Unholds Aufenthalt nicht steht
zu entdecken…
Ein Spion kam hinter seine Schlich; um Lohn
bracht er dem Feind die Meldung dann.
dass man doch Molchen fassen kann….
es nützt ihm nicht, dass ganz in Eisen
sein Pferd und er verkleidet reisen…
dass ihr’s wisst, jedweden Huf beschlug er
mit ’nem Eisen, das verkehrt auftritt.
Zur Sicherheit ward eng umstellt
bei Nacht und Nebel Schloss und Feld
mit Kriegsvolk, dass er nicht entschlüpft
wenn man ihn endlich wo betrifft.
Von allen Orten, aus Land und Stadt
zog Mannschaft her, die sich gern satt
wollt‘ machen für die Räuberei,
die Molchen trieb ganz frech und frei….
Auch schlief ihr Gegner nicht derweil,
setzt sich mit Macht zur Wehr in Eil,
und schoss aus Katapulten, mit Lanzen
und Bogen, bis sie nahmen die Schanzen.
Dann stürzten sie das Schloss in Grund,
dass nichts mehr ist zu sehen zur Stund,
die Knechte ließen sie all springen,
trotz vielen Sträubens, über die Klingen.
Graf Molchen aber spaziert‘ ins Loch,
ohn‘ Ausgang, Moder lag fußhoch,
drin kroch’s voll Molchen, Unken und Ratten,
die an dem Vetter viel Freude hatten.“
(Auszüge aus der Wildberg-Chronik von Wilhelm Himburg, Seite 26 folgende)
Der Name Berend von Maltzahn taucht in den Versen zwar nicht auf, aber die Übereinstimmung des Geschehens in Legende und erforschter Historie lässt keinen Zweifel zu: „Molchen“ ist der „Böse Bernd“, berühmt-berüchtigter Recke aus angesehener Familie, Burgherr auf Wolde.
Einen Raubritter und adeligen Tunichtgut nennen ihn die einen – aber andererseits war er auch nachweislich Herzoglich Pommerscher Erblandmarschall und Herzoglich Mecklenburgischer Geheimer Rat. Wie passt das zusammen?
Nun, dieser Maltzahn war in jedem Fall Repräsentant einer Zeit, in der Landfrieden ein Fremdwort und Anarchie eine Alltagserfahrung darstellte. Die eher schwachen Herzöge in Mecklenburg und Pommern waren vollauf damit beschäftigt, die Souveränität ihrer Herrschaft nach außen und innen zu verteidigen, der Landadel war gut damit beschäftigt, den herzoglichen Landesherren möglichst viel Kompetenzen abzutrotzen, dem Nachbarritter eine Fehde an den Hals zu schaffen und den reich gewordenen Städten auf der Landstraße möglichst viel von ihrem Handelsgut abzuknöpfen. Auch das Geschäft mit dem Freikauf von Gefangenen stand in schönster Blüte. Die Städte wiederum – voran die Hansestädte – strebten nach Unabhängigkeit und zeigten wenig Neigung, ihren Wohlstand mit den Herzögen und erst recht nicht mit dem räuberischen Landadel zu teilen.
Zu den großen Verlierern in diesem Chaos gehörten insbesondere die Menschen in den weitgehend ungeschützten Dörfern. Die Häuser anzustecken, die Ernte zu verbrennen oder das Vieh wegzutreiben waren äußerst wirksame Mittel, um dem feindlichen Nachbar-Gutsherrn die ökonomische Grundlage zu entziehen – und das war wesentlich ungefährlicher als ein Frontalangriff auf die Burg des Kontrahenten. So ist es kein Wunder, dass in mündlicher Überlieferung die „bösen Ritterbuben“ auf dem flachen Land in Erinnerung blieben und noch nach Jahrhunderten als Kinderschreck zum Einsatz kamen. Unser „Molchen“ ist dafür ein Paradebeispiel. Es ist in der Legende nicht davon die Rede, dass Berend – obwohl in unmittelbarer Nachbarschaft ansässig – Wildberg direkt bedroht hat. Die Reinfeldischen Dörfer waren als Klosterbesitz ja gewissermaßen exterritorial. Aber die schlimmen Erfahrungen in vielen Nachbardörfern haben sich auch hier ins Gedächtnis eingebrannt. Was für ein Kaliber dieser Rittersmann war, lässt sich auch aus Gerichtsakten aus dem Jahr 1490 ersehen, die einen Prozess in Wolgast dokumentieren: Ihm wurde Amtsmissbrauch als Landvogt in den Bezirken Loitz und Treptow a.T. vorgeworfen, jeweils kombiniert mit Unterschlagung von Abgaben und Zöllen, sowie ein Mordversuch an seinem Amtsnachfolger in Loitz. Das ergangene Urteil hat er hohnlachend ignoriert und sich in seiner Burg Wolde verschanzt, die er Dank seiner „Nebeneinnahmen“ in eine schier uneinnehmbare Festung verwandelt hatte.
Sein Pech war, dass er es nunmehr mit dem tatkräftigsten Pommernherzog zu tun hatte, den die Dynastie der Greifen hervorgebracht hat: Bogislaw X. , dem es gelang, die Truppenaufgebote der Städte Greifswald, Stralsund, Anklam und Demmin gegen ihn in Marsch zu setzen. Obwohl sich die Städter aufrichtig bemühten, den verhassten Wegelagerer schachmatt zu setzen, gelang es zunächst auch unter Einsatz von Kanonen nicht, die Wälle der Festung zu überwinden. Erst ein Missgeschick der Besatzung machte Wolde sturmreif: Die Pulvervorräte in einem Turm explodierten und schlugen eine Bresche in die Mauern. Die Burg wurde vollständig geschleift und der Besatzung ist es wohl schlimm ergangen. Der Hauptzweck der Aktion aber wurde nicht erreicht: „Molchen“ entkam und hielt sich mehrere Jahre auf seinem Besitz im Brandenburgischen auf. Eine Unachtsamkeit führte fünf Jahre später dazu, dass der „böse Bernd“ doch noch dem Pommernherzog ins Netz ging. Zwei Jahre wurde „Molchen“ in Demmin eingekerkert, dann schwor er Urfehde (Verzicht auf alle Fehde und Einhaltung des Landfriedens) und war ein freier Mann. Aus dem „Bösen Bernd“ wurde – jedenfalls beinahe – der „Lammfromme Bernd“, dem es noch bis 1526 vergönnt war, von seinem neuen Hauptsitz Penzlin aus hohe Ehren und beträchtlichen Besitz anzuhäufen. Was also das Ende von „Molchen“ anbelangt: Die Wildberger Legende ist in diesem Punkt wohl dem auf gerechte Bestrafung gerichteten Wunschdenken entsprungen!
© Gerhard Fink